Südkorea und die USA haben gemeinsame Militärübungen im März aufgrund der Covid‑19-Pandemie abgesagt. Pjöngjang dagegen, das Infizierungen im eigenen Land abstreitet, führte zwischen Ende Februar und Mitte April 2020 fünf Tests ballistischer Raketen durch und hielt sieben Militärübungen ab. Das nordkoreanische Regime demonstriert damit erneut seine Fähigkeiten und seine Entschlossenheit, nukleare Trägersysteme weiterzuentwickeln. Sollen die jüngsten Waffentests mit Blick auf etwaige Verhandlungen Druck auf Washington ausüben oder will Pjöngjang damit seinen Status als nuklear bewaffnete Militärmacht vorführen? Im Herbst 2020 stehen für Donald Trump die Präsidentschaftswahlen an, für das Regime Kim Jong Uns die Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der Arbeiterpartei. Für beide wäre ein außenpolitischer Erfolg wichtig; die derzeitige Entwicklung, die von Raketentests und dem Fehlen von Verhandlungen gekennzeichnet ist, lässt jedoch wenig Raum für positive Szenarien.
China drängt darauf, die Gremien der International Telecommunication Union (ITU) zu nutzen, um Protokolle und Standards für das Internet der Zukunft zu entwickeln. Viel Aufmerksamkeit erfährt dabei der chinesische Vorschlag, eines der grundlegenden Protokolle zur Datenübertragung im Internet – das »Internet Protocol« (IP) – durch »NewIP« zu ersetzen. Vor wenigen Wochen griff die Financial Times den Vorgang auf, was eine internationale Debatte auslöste. Warum die Aufregung?
Daniel Voelsen: China ist bekannt dafür, das eigene Internet sehr genau zu kontrollieren. Mit hohem technischem und personellem Aufwand versucht der Staat dort zu kontrollieren, welche Informationen ausgetauscht werden. So soll es gelingen, das wirtschaftliche Potential des weltweiten Internets zu nutzen, ohne die eigene politische Macht zu gefährden. Schon länger formuliert China dabei den Anspruch, auch die globale Entwicklung des Internets zu prägen. NewIP wird insofern als ein weiterer Beleg für den globalen Gestaltungsanspruch Chinas in diesem Bereich gedeutet.
Nadine Godehardt: Dieses Vorgehen ist nicht untypisch für das China unter Xi Jinping. In vielerlei Hinsicht nutzt die chinesische Regierung den Rückzug der USA aus den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen, um ihre Vorstellungen, Regeln und Ideen prominent zu platzieren. Ihr Ziel ist es, das internationale System mehr an China anzupassen, während sie auf diplomatischer und medialer Ebene breites Engagement und Offenheit signalisiert. Das Engagement der chinesischen Akteure innerhalb der ITU, die eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist, ist tatsächlich nur ein weiteres Beispiel dafür.
Woher rührt das große politische Interesse an – auf den ersten Blick technischen – Standards?
Daniel Voelsen: Digitale Technologien basieren fundamental auf Standards und Protokollen. Ein modernes Handy braucht etwa WLAN und LTE für drahtlose Verbindungen, breit geteilte Standards für Bild-Dateien oder Protokolle für den Versand von E-Mails. Wer diese Standards und Protokolle prägt, hat wirtschaftliche Vorteile und kann auch politisch Einfluss nehmen. Weil es in nahezu allen Fällen um globale Standards geht, ist auch dieser Wettstreit um Einfluss global.
Nadine Godehardt: Die Durchsetzung und Verbreitung von technischen und regulativen Standards spielt für die chinesische Regierung mittlerweile eine zentrale Rolle. Denn Standards repräsentieren im chinesischen Sinne »Konnektivitätsressourcen«, die es Peking ermöglichen, andere Akteure indirekt oder direkt zu beeinflussen. Die Kontrolle über Infrastrukturen und zentrale Knotenpunkte wie beispielweise durch den Vorstoß mit NewIP ist daher ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Strategie, die zukünftige Struktur des internationalen Systems aktiv mitzugestalten.
Welche Ziele verfolgt China mit dem Vorstoß in der ITU?
Daniel Voelsen: Über die technischen Details von NewIP ist bisher wenig bekannt. Bis jetzt ist das noch eine recht vage Idee, aus der nach dem Willen der Chinesen in den nächsten Jahren ja erst noch ein technisches Protokoll entstehen soll. Aber schon die bisher verfügbaren Informationen lassen recht deutlich die Ziele Pekings erkennen: Mit NewIP sollen bereits auf Ebene der grundlegenden Protokolle des Internets neue Möglichkeiten geschaffen werden, Datenflüsse im Internet zentral zu steuern. Bisher muss der chinesische Staat hierfür einen großen Aufwand betreiben, weil das Internet ursprünglich eine solche Kontrolle nicht vorsah. Auch die Wahl der ITU ist nicht zufällig: Hierin kommt der Anspruch Chinas zum Ausdruck, die Entwicklung von Standards und Protokollen für das Internet staatlich zu steuern, also nicht wie bislang weithin privaten Akteuren zu überlassen.
Nadine Godehardt: Für die chinesische Regierung bietet sich so die Möglichkeit, zwei zentrale Ziele zu verbinden. Wenn sich diese noch sehr vage Idee durchsetzt, dann unterstützt sie erstens die Aufrechterhaltung digitaler Souveränität auf dem Territorium Chinas, das heißt die Zentralregierung kann das chinesische Internet weiterhin und mit weitaus geringerem Aufwand als bisher in ihrem Sinne kontrollieren. Zweitens würde ein neues, von chinesischen Akteuren mitentwickeltes Internetprotokoll aber auch die internationale Offenheit, Verantwortung und Kooperationsbereitschaft Chinas unterstreichen. Es ist Teil von Pekings Staatsdoktrin, »Win-win-Situationen« in diesem Sinne zu schaffen.
Wie sollten Deutschland und Europa auf Chinas Vorschlag reagieren?
Daniel Voelsen: Die aktuelle Diskussion um NewIP scheint mir etwas überhitzt. Nach allen bekannten Informationen ist NewIP noch weit davon entfernt, eine echte Alternative darzustellen. Sehr wohl aber sollten wir ernst nehmen, dass China mit Blick auf das Internet einen globalen Gestaltungsanspruch hat. Hinzu kommt, dass das chinesische Modell eines Internets, das wirtschaftliche Freiheit mit engmaschiger politischer Kontrolle verbindet, für viele Staaten der Welt attraktiv sein dürfte. Um dem etwas entgegenzusetzen, ist es zuerst einmal notwendig, die eigene Position klar zu formulieren. Wir müssen erklären können, wie sich ein digital durchsetzungsfähiger Rechtsstaat von dem Herrschaftsanspruch der chinesischen Regierung unterscheidet. Anders als in der Vergangenheit wird es zudem notwendig sein, für dieses Modell einer liberalen digitalen Gesellschaft proaktiv zu werben. Dem für viele Staaten verlockenden Angebot Chinas müssen wir politisch, wirtschaftlich und letztlich dann auch technisch ein besseres Angebot gegenüberstellen.
Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion.
Mit Nachdruck wird nach politischen Lösungen für die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung im globalen Süden gesucht. Ironischerweise bauen die damit verbundenen Forschungsprojekte häufig auf existierenden Machtgefällen auf, die unsichere Arbeitsbedingungen begünstigen können und somit selbst gegen das Ziel „menschenwürdige Arbeit“ (SDG 8) verstoßen.
Die globale Architektur von Entwicklungsforschungsprojekten bewegt sich häufig auf drei Ebenen: Forscher im globalen Norden, Eliten im globalen Süden und lokale Wissenschaftler. Forschungsinstitute aus dem globalen Norden stellen dabei häufig die Mittel bereit und arbeiten mit den lokalen Eliten aus dem globalen Süden zusammen. Diese wiederum beauftragen lokales Personal mit der Durchführung der eigentlichen Datenerhebung oder Forschungsarbeit. Zwischen den drei Ebenen wird ein erhebliches Machtgefälle deutlich, wenn man den Beitrag zum Forschungsdesign einerseits und die aktive Beteiligung an der Feldforschung andererseits betrachtet. Statt sich auf das Wissen und die Erfahrungen der lokalen Wissenschaftler*innen zu stützen, werden diese häufig in die Rolle von Forschungsassistent*innen gedrängt und bei den endgültigen Forschungsergebnissen kaum gewürdigt. Da die Mitglieder der oberen zwei Forschungsebenen im Feld häufig nicht physisch zugegen sind, besteht die Gefahr, dass ihre Studiendesigns lokale Realitäten nur unzureichend berücksichtigen. Daraus resultiert, dass die entwicklungsorientierte Forschung zu unangemessenen Arbeitsbedingungen der lokalen Forschungsteams beiträgt und so die Grundsätze von SDG 8 untergräbt.
Menschenwürdige Arbeit und ihre Auswirkungen auf das Wohlergehen des ForschungsteamsMenschenwürdige Arbeit impliziert, dass am Arbeitsplatz Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Menschenwürde gefördert, geschützt und menschenwürdige und produktive Arbeitsbedingungen geboten werden. In der Realität sind die Arbeitsbedingungen des Forschungspersonals im globalen Süden davon häufig weit entfernt. Da die Entwicklungsforschung zunehmend aus dem Entwicklungshilfehaushalt finanziert wird, wächst der Druck auf die Forschung, möglichst schnell Ergebnisse zu liefern. Doch die engen Zeitpläne entsprechen manchmal nicht der lokalen Wirklichkeit. Um Termine einzuhalten, wird also nicht selten weit über die vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit hinaus gearbeitet. Lange Arbeitstage bergen jedoch ein erhöhtes Risiko, vor allem wenn Befragungen in prekären Wohngebieten durchgeführt und teure Geräte zur Datensammlung mitgeführt werden.
Um knappen Budgets und der Kurzfristigkeit vieler Projekte Rechnung zu tragen, werden lokale Interviewer und Dolmetscher häufig nur befristet und ohne Sozialversicherung beschäftigt. Dies ist besonders in der aktuellen COVID-19-Situation problematisch. Forschungsmitarbeiter*innen müssen sich gewissermaßen zwischen mehreren Monaten Arbeitslosigkeit wegen verzögerter oder ganz abgesagter Feldforschung und Datenerhebungsaufträgen mit erhöhtem Risiko entscheiden. Auch in formellen Anstellungsverhältnissen reicht das Gehalt der lokalen Kräfte häufig gerade aus, um die Kosten der Grundversorgung zu decken. Durch die Komplexität des Forschungskontextes vor Ort kommt es jedoch häufig zu unvorhergesehenen Problemen, beispielsweise wenn schlechte Straßen längere Reisezeiten verursachen. Noch schlimmer ist, dass unsichere Transportmittel und Infektionsgefahren die Belastung für das lokale Forschungspersonal erhöhen.
Bei Untersuchungen zu sensiblen Themen wie rassistisch motivierter oder geschlechterbasierter Gewalt bringt unzureichende Vorbereitung das lokale Forschungspersonal in erhebliche Gefahr. So ist zum Beispiel das Risiko geschlechterbasierter Gewalt für weibliche Forscherinnen aufgrund der patriarchalen Strukturen in manchen Ländern größer. Trotz solcher Gefahren sind Kurzzeiteinsätze für lokale Forschungsmitarbeitende attraktiv, weil daraus neue Kontakte entstehen können, man etwas lernen kann, und nicht zuletzt, weil es nur begrenzt Alternativen gibt.
Wir können das besserDie Entwicklungsforschung selbst verstärkt die unangemessenen Arbeitsbedingungen, die das Wohlergehen der lokalen Forscherinnen und Forscher beeinträchtigen. Aufgrund der bestehenden hierarchischen Struktur müssen die beiden oberen Ebenen die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Arbeitsbedingungen verbessert und der wertvolle Beitrag der lokalen Forschenden angemessen honoriert wird. Im Hinblick auf die Strukturierung von Forschungsprozessen besteht also mittelfristig ein Bedarf an einem Paradigmenwechsel. Die Finanzierungsträger und die Forschungspolitik müssen mehr Unterstützung für die Überwindung dieser tief verankerten Hierarchien bereitstellen. Hierunter fällt, einen weiteren beiderseitigen Kapazitätsaustausch und die Leitung von Forschungsvorhaben durch Wissenschaftler*innen aus dem globalen Süden zu einer Priorität zu machen. Darüber hinaus sollten bei Forschungsanträgen strengere Kriterien für die Arbeitsbedingungen gelten. Auf diese Weise könnten menschenwürdige Arbeitsbedingungen im Sinne von SDG 8 für alle gewährleistet werden. Andernfalls läuft die Entwicklungsforschung Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Ananya Chakraborty ist Postdoktorandin und forscht zu den Themen SDGs, Migration und Geschlechtergleichheit am Tata Institute of Social Sciences. Im Jahr 2019 war sie Teilnehmerin der Managing Global Governance Akademie des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE).
Lennart Kaplan ist Assoziierter Wissenschaftler am DIE. Gemeinsam mit Jana Kuhnt (DIE) und Janina Steinert (TUM München) arbeitet er an einem Projekt zur Ethik in der Entwicklungsforschung, das die ethischen Herausforderungen untersucht, mit denen sich lokale und internationale Forschungsmitarbeiter bei der Durchführung von Untersuchungen im Zielland konfrontiert sehen.
Die Corona-Pandemie führt seit Beginn des Jahres zu einer schweren Krise der Weltwirtschaft, die sich – wie jede Krise – auch an den Devisenmärkten zeigt. Der Preis der dort gehandelten nationalen Währungen spiegelt die Stärke der jeweiligen Volkswirtschaft. Die großen Veränderungen der Wechselkurse seit Januar zeigen, wie die Volkswirtschaften in der Welt ganz unterschiedlich stark von der Krise getroffen werden. Grundsätzlich führt eine Krise zur Flucht in „sichere Häfen“, also in die Währungen der stabilsten Volkswirtschaften: An erster Stelle steht immer noch der US-Dollar, der in den drei letzten Monaten um rund fünf Prozent aufgewertet hat. Die Währungen von Industrieländern verlieren etwas an Wert, dagegen sind die Währungen typischer Schwellenländer in wenigen Wochen im Schnitt um zehn Prozent gefallen. Manche Währungen, wie der brasilianische Real, sind gar um 25 Prozent abgestürzt, was die Volkswirtschaft weiter destabilisiert. Einige Schwellenländer haben diesen Absturz durch Devisenmarktinterventionen bremsen können.
The Covid-19 crisis is a good opportunity to test models of a universal basic income (UBI). They can prevent poverty and stimulate recession-hit economies at the same time.
On reaching the Horn of Africa, the corona virus will have encountered countries already facing a multitude of challenges. Prolonged armed conflict, drought and insecurity have turned more than eight million people into refugees in their own countries, and a further 3.5 million have fled to neighbouring countries where they live in overcrowded refugee camps. All the countries in this region are in a fragile state of political transformation or have been severely weakened by war and government failures. They possess neither the capacity to contain the Covid pandemic nor to mitigate the resulting unemployment, poverty and hunger. In order to guard against jeopardising the process of democratisation in Sudan and Ethiopia, special emphasis should be placed on social security systems and gaining the trust of the population. This requires an emergency aid package from abroad that will ensure the economic survival of all countries in the region. However, long-term support should be conditional on guaranteeing that most of the investment goes into developing state capacities for critical infrastructure and social security.
Die Berliner Libyen-Konferenz vom Januar 2020 sollte die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen (VN) in dem eskalierenden Konflikt unterstützen. Unter den Beschlüssen erzeugte das Bekenntnis der teilnehmenden Staaten zum bestehenden VN-Waffenembargo besondere Aufmerksamkeit. Da dieses schon kurz nach der Konferenz wieder gebrochen wurde, geriet der Ansatz schnell in die Kritik. Tatsächlich gibt es bei Um- und Durchsetzung solcher Embargos der VN etliche Herausforderungen, die im Falle Libyens besonders ausgeprägt sind. Ein genauer Blick auf alle bestehenden VN-Waffenembargos in Konfliktkontexten zeigt aber auch Ansatzpunkte auf, wie diese am häufigsten verhängte Form von VN-Sanktionen besser genutzt werden kann. Gewiss wird kein noch so gut überwachtes Waffenembargo allein einen Friedensprozess retten. Als Teil eines Gesamtpakets von Maßnahmen zur Konfliktlösung kann das Instrument aber wirkungsvoller eingesetzt werden.
Die Parlamentswahlen in Südkorea am 15. April waren die weltweit erste landesweite demokratische Abstimmung seit dem Ausbruch der Corona-Krise. Dass sie überhaupt durchgeführt werden konnten, steht in direktem Zusammenhang mit der Strategie, die Südkoreas Regierung bei der Eindämmung der Corona-Pandemie verfolgt. Klarer Sieger war denn auch der amtierende Präsident Moon Jae-in, der insbesondere für sein erfolgreiches Krisenmanagement belohnt wurde. Doch ist die Wahl auch ein Sieg für die noch immer vergleichsweise junge Demokratie in Südkorea. Da Regierung und Bevölkerung aus den Erfahrungen früherer Epidemien gelernt haben, mussten sich die Bürger nicht zwischen der Ausübung ihrer demokratischen Rechte und dem Schutz ihrer Gesundheit entscheiden.
Wenn sich am 6. Mai die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder mit den Kollegen aus den Westbalkanländern per Video zusammenfinden, soll ein Hilfspaket der Europäischen Union in Höhe von 3,3 Milliarden Euro im Mittelpunkt stehen. Der geplante Umfang der finanziellen Unterstützung für die Staaten Südosteuropas stelle unter Beweis, so die Kommission, dass die EU angesichts der Krise entschieden vorgehe. Neben den Soforthilfen für medizinische und soziale Zwecke werde im Herbst ein »robuster Wirtschafts- und Investitionsplan« vorgestellt, der mit Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sozialpolitik insbesondere auf die gesellschaftliche Entwicklung ziele. Mit dem Beistandspaket gehe man weit über das hinaus, was jeder andere Partner der Region zur Verfügung gestellt habe, denn der Westbalkan sei »eine geostrategische Priorität« der Union. Offenbar möchte die – laut Präsidentin Ursula von der Leyen »geopolitische« – Kommission in Südosteuropa jetzt eindeutige Zeichen setzen. Denn, so der deutsche Chefdiplomat Heiko Maas: »Ohne den Westbalkan ist das europäische Projekt unvollendet«. Er sei umgeben von EU-Staaten. Man dürfe daher dort keine Unsicherheit und Instabilität zulassen.
Freund und Bruder Xi JipingAllerdings scheint das Durchsetzungsvermögen der EU im Westbalkan und insbesondere im größten und politisch bedeutendsten Staat der Region, Serbien, seit dem Seuchenausbruch angeschlagen zu sein. In den Nachrichtenmedien der Region wurde anfangs vor allem über die Ankunft medizinischer Hilfstransporte aus China, der Türkei oder Russland berichtet. Die Solidarität der EU sei ein Märchen, polterte Serbiens starker Mann, Präsident Aleksandar Vučić. Unmittelbarer Anlass für seinen Missmut war die Brüsseler Entscheidung, die Westbalkanländer nicht von einem am 19. März 2020 verhängten Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung in Drittländer auszunehmen. Kurz vor der Kommissionsmitteilung zum Westbalkan-Gipfel wurden diese Güter dann doch für die Region freigegeben.
Dass Vučić sich zu dem tollkühnen Versuch hinreißen ließ, vor laufenden Kameras dem chinesischen Volk auf Chinesisch zu danken, ferner die chinesische Flagge küsste und den chinesischen Führer als »Freund und Bruder XI Jiping« hofierte, ist nur zum Teil mit hemmungsloser Anbiederung zu deuten. Vielmehr hat sich im Westbalkan die Einsicht ausgebreitet, dass die angestrebte EU-Mitgliedschaft nicht das Allheilmittel für die hartnäckigen Probleme der Region sein kann.
Die starke Verflechtung der Region mit der EU, vor allem über deutsche und italienische Unternehmen, hat nicht nur Vorteile. Als Folge der Krise in der Union nimmt die Nachfrage nach Produkten und Dienstleitungen aus der Region ab (über 70 Prozent des Außenhandels entfällt auf die EU), Investitionen aus der EU fallen aus, die Überweisungen der Migranten in die alte Heimat sinken. Die Weltbank rechnet mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im Westbalkan um bis zu 5,7 Prozent in diesem Jahr. Selbst bei bester Wirtschaftslage in der EU aber vermag der Westbalkan nicht genug Investitionen aufzubringen, um ein Wachstum von über sechs Prozent jährlich zu erreichen. So viel wäre notwendig, um in 30 Jahren zum EU-Durchschnitt aufzuschließen. Man blickt in der Region deswegen in der Hoffnung auf größere Investitionen zunehmend nach Asien, vor allem nach China.
Eine neue Grundhaltung ist nötigDas angekündigte EU-Hilfspaket wird wenig an den grundlegenden Problemen der Region ändern können, wenn die EU den Westbalkan nicht anders als bisher als festen Bestandteil der EU behandelt – aus den genannten »geopolitischen« Gründen. Dazu würde zunächst gehören, dass die geplanten Hilfen keine einmalige Leistung sind, die überwiegend auf Krediten und nicht auf Zuwendungen fußt. Anders als die »neuen« Mitgliedsländer der Union haben die Westbalkanländer bisher keine solidarischen Aufbaubeihilfen zum Ausgleich ihres Handelsbilanzdefizits mit der EU von über 100 Milliarden Euro im vergangenen Jahrzehnt erhalten. Um das zu ändern, müsste der Region schon vor der Mitgliedschaft Zugang zu den Struktur- und Kohäsionsfonds der EU oder einer vergleichbaren Zuwendungsquelle eröffnet werden, damit umfassender und dauerhafter Wachstum einsetzt.
Selbst wenn die EU mit diesem Weg eine grundsätzlich andere Haltung einnimmt, steht nicht fest, ob es dafür nicht zwölf Jahre zu spät ist: Ein vergleichbarer Vorstoß hätte nach 2008/2009 stattfinden sollen, als die große Schulden- und Finanzkrise auf den Westbalkan überschwappte und die Region noch schlimmer als die EU selbst traf. In der Zwischenzeit haben im Westbalkan zwei vermutlich unumkehrbare Entwicklungen stattgefunden. Zum einen haben die Menschen die Hoffnung aufgegeben, dass sie Wohlstand noch erleben werden. Deswegen wandern sie in Massen aus: Im Jahr 2018 hat alle zwei Minuten ein Bürger der Westbalkanstaaten eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in der EU bekommen – insgesamt 230.000 Menschen.
Zum anderen haben nach der Finanzkrise 2008 überall im Westbalkan rechtspopulistische und autoritäre Kräfte wieder die Oberhand gewonnen (Nordmakedonien ist derzeit die Ausnahme). Das demokratische Potenzial der Gesellschaften ist weiter zurückgegangen – unter anderem wegen der Vergreisung der Bevölkerung und massenhafter Auswanderung, der wirtschaftlichen Schwächen und der nicht beigelegten ethnopolitischen Konflikte. Darauf verweisen alle Untersuchungen von internationalen Demokratie- und Menschenrechtsorganisationen. Zudem ist fraglich, ob Vučić und die anderen Alleinherrscher bereit sind, friedlich die Macht wieder abzugeben.
Nach dem Gipfel nächste Woche wird folglich ein Dilemma ungelöst bleiben: Soll man, geopolitisch motiviert, die Staaten letztlich in die EU durchwinken, wie es mit den ostmitteleuropäischen Staaten seinerzeit der Fall war? Oder darf die weitere Annäherung der Westbalkanstaaten an die EU erst nach dem Einlenken ihrer Regierungen in rechtsstaatliche Bahnen stattfinden? Nach dem Abklingen der Pandemie sollen Parlaments- und andere Wahlen in Serbien, Montenegro, Nordmakedonien sowie Bosnien und Herzegowina stattfinden. Eine gründliche Überprüfung der demokratischen Qualität dieser Wahlen müsste die Grundlage sein, auf der die EU entscheiden sollte, mit welchen Regierungen sie den Erweiterungsprozess weiterführen und mit welchen sie ihn vorerst einfrieren möchte.
When EU leaders and their counterparts from the Western Balkans meet on 6 May for a video conference, the focus will be on a €3.3 billion aid package from the European Union. The planned level of financial support for the countries of south-east Europe is proof, the Commission has said, that the EU is taking decisive action in the face of the crisis. In addition to emergency aid to address the health crises and the resulting humanitarian needs, a substantial “economic and investment plan" will be presented in the autumn, with measures in the areas of health, education and social policy aimed in particular at social development. According to the Commission, the assistance package goes far beyond what any other partner has provided to the region, as the Western Balkans is "a geostrategic priority" for the Union. Apparently, the "geopolitical Commission” (President Ursula von der Leyen) now wants to send a clear signal in south-east Europe. Because, according to the German Foreign Minister Heiko Maas, "without the Western Balkans, the European project is unfinished", it is surrounded by EU states, therefore no uncertainty and instability should be allowed there.
Friend and brother Xi JipingHowever, the EU's ability to assert itself in the Western Balkans and especially in the largest and politically most important state in the region, Serbia, seems to have weakened since the outbreak of the pandemic. The region's news media initially reported mainly on the arrival of medical aid shipments from China, Turkey or Russia. EU solidarity is a fairy tale, rumbled Serbia's strong man, President Aleksandar Vučić. The immediate cause for his displeasure was the Brussels decision not to exempt the Western Balkan countries from an export ban on personal medical protection equipment to third countries, which was imposed on 19 March 2020. Shortly before the Commission's Communication on the Western Balkans Summit, the export of these goods was released for the region.
The fact that Vučić allowed himself be carried away in a ham-fisted attempt to thank the Chinese people in Chinese in front of running cameras, kissing the Chinese flag and ingratiatingly calling the Chinese leader "friend and brother XI Jiping", can only partly be interpreted as an immoderate attempt to curry favour. In point of fact, the perception has spread in the Western Balkans that the aspired EU membership cannot be the panacea for the region's persistent problems.
The region's strong integration with the EU, especially through German and Italian companies, has not only advantages. As a result of the crisis in the Union, demand for products and services from the region is declining (the EU accounts for over 70 percent of external trade), investments from the EU are mostly on hold, and migrants' remittances to their homelands are falling. The World Bank expects economic output in the Western Balkans to decline by up to 5.7 percent this year. Even in the best economic situation in the EU, however, the Western Balkans will not be able to raise enough investment to achieve an annual growth of over six percent, the level necessary to catch up with the EU average in 30 years. For this reason, the region is increasingly looking to Asia, especially China, in the hope of attracting larger investments.
A change of direction is necessaryThe announced EU aid package will be able to do little to change the fundamental problems of the region if the EU does not treat the Western Balkans as an integral part of the EU – for the “geopolitical" reasons mentioned above. This would entail, first of all, that the planned aid is not a one-off effort based mainly on loans rather than grants. In contrast to the "new" member states of the Union, the Western Balkan countries have so far not received robust, solidarity-based development aid to offset their trade deficit with the EU of over 100 billion euros, accumulated over the past decade. In order to change this, the region needs to be given access to the EU's structural and cohesion funds or a comparable source of zero-priced capital before membership, so that comprehensive and sustainable growth can begin.
Even if the EU takes a fundamentally different stance with this approach, it is unclear whether it is not 12 years too late: a similar push should have taken place after 2008/2009, when the international debt and financial crisis spilled over to the Western Balkans and hit the region even harder than the EU itself. In the meantime, two probably irreversible developments have taken place in the Western Balkans. Firstly, people have given up on the hope that they will experience prosperity. This is why they are emigrating en masse – in 2018, every two minutes a citizen of the Western Balkan countries received a residence and work permit in the EU, a total of 230,000 people.
Secondly, after the 2008 financial crisis, right-wing populist and authoritarian forces have regained the upper hand everywhere in the Western Balkans (Northern Macedonia is currently the exception). The democratic potential of these societies has further declined – among other things because of the ageing population and mass emigration, economic weaknesses and unresolved ethno-political conflicts. All studies by international democracy and human rights organisations point to this. Moreover, it is questionable whether Vučić and the other autocrats are prepared to peacefully relinquish power.
Consequently, after next week's summit, one dilemma will remain unresolved: should the EU, geopolitically motivated, ultimately wave the states through to membership, as was the case with the eastern Central European states? Or should the Western Balkan states only be allowed to continue their rapprochement with the EU after their governments have started delivering on the rule of law? Once the pandemic has subsided, parliamentary and other elections are to be held in Serbia, Montenegro, Northern Macedonia and Bosnia and Herzegovina. A thorough review of the democratic quality of these elections should be the basis on which the EU decides with which governments it wishes to continue the enlargement process and with which it wishes to freeze it for the time being.