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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 1 week 1 day ago

»Die EU muss ein gemeinsames Auftreten gegenüber China organisieren«

Mon, 17/02/2020 - 00:45

Wenn es um die Rivalität zwischen den USA und China geht, stehen meist die Handelsstreitigkeiten im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Hanns Günter Hilpert schreibt in seinem Beitrag zu Ihrer Studie aber, dass Handelskonflikte der am leichtesten lösbare Knoten im komplexen Geflecht der Rivalität sein könnten. Mit welcher Begründung?

Volker Perthes: Der Handelskonflikt zwischen den USA und China dominiert den öffentlichen Teil der Auseinandersetzung tatsächlich, nicht zuletzt wegen der Tweets des amerikanischen Präsidenten. Zudem hat der Konflikt direkte Auswirkungen auf die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten und wird deshalb hier und an den Aktienmärkten sicherlich besonders ernst genommen. Aber es ist letztlich ein Verteilungskonflikt, der als solcher auch lösbar ist.

Das heißt, wenn man ihn beilegt, ist die Rivalität nicht aus der Welt?

Wenn man den Handelskonflikt löst oder – was wahrscheinlicher ist – wenn man ihn vorübergehend regelt, wie jetzt durch das aktuelle Phase-eins-Abkommen zwischen Washington und Peking, kann man die Situation sicher entspannen. Aber der zugrundeliegende Konflikt, bei dem es um den Status von USA und China im internationalen System bzw. ihren Einfluss auf andere Staaten und Regionen geht, bleibt bestehen – und er zeigt sich nicht nur auf der wirtschaftlichen und handelspolitischen Ebene. Der Konflikt hat weitere Dimensionen, etwa eine sicherheitspolitische, ideologische oder technologische.

Die ideologische Dimension beschreiben Sie als einen Wettstreit zwischen liberalen und demokratischen Gesellschaftsvorstellungen auf der einen und autoritären auf der anderen Seite. Wie deutlich stehen die USA noch auf der Seite des liberalen Modells?

Die USA sind nach wie vor ein gefestigter, demokratischer Staat, auch wenn der amerikanische Präsident mit seinen Aktionen nahezu jeden Tag vermittelt, dass er das System von Checks und Balances, von der Machtteilung zwischen Exekutive, Legislative und Justiz, praktisch infrage stellt. Gleichwohl bleiben die USA nicht nur ein demokratischer Staat, sondern auch eine demokratische Gesellschaft mit mehr als zweihundertjähriger demokratischer Erfahrung. Zwar kann sich Trump in der Ausrichtung seiner internationalen Politik auf eine Mehrheit stützen, die vermutlich breiter ist als seine eigene Wählerschaft. Aber in seinem Kampf gegen die demokratischen Institutionen seines eigenen Landes wird er vermutlich und hoffentlich eine Ausnahmeerscheinung bleiben.

Sie schreiben, dass die Rivalität zwischen den USA und China zum Leitparadigma der internationalen Beziehungen geworden ist. Was bedeutet das?

Konflikte zwischen einer Nummer eins im internationalen System – derzeit den USA – und einem Herausforderer, haben historisch immer auch den Charakter des gesamten internationalen Systems verändert. Heute heißt das, dass viele Fragen der internationalen Politik gewissermaßen durch den Rahmen der chinesisch-amerikanischen Rivalität betrachtet werden.

Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

Sehen Sie sich die Diskussion um Technologie an: Sie dreht sich nicht nur um Fortschritt und dessen Risiken und Chancen, auch nicht nur um Industriepolitik und technologische Führerschaft oder die wirtschaftlichen Vorteile, die den führenden Staaten und Gesellschaften daraus erwachsen. Es geht zunehmend auch um geopolitische Machtprojektion durch »technopolitische Einflusssphären«, wie es die Autoren Schulze und Voelsen in ihrem Beitrag bezeichnen. Am deutlichsten wird das an der Auseinandersetzung um 5G und die Beteiligung chinesischer Firmen am Netzausbau.

Was ist in dieser Situation die richtige Strategie für Europa? Einige Beobachter empfehlen, Äquidistanz – also einen gleich großen Abstand – zu den beiden Rivalen zu halten. Sie sagen, das ist nicht möglich. Was ist die Alternative?

Äquidistanz ist keine Lösung. Wir sind den USA näher, und auch diejenigen Europäer, die Vertrauen in die USA als Garant europäischer Sicherheit verloren haben, wollen nicht stattdessen ihre Sicherheit und unseren »European Way of Life« von China garantiert sehen. Stattdessen geht es um das, was man europäische Selbstbehauptung nennen kann: dass Europa seine eigene Politik gegenüber China entwickelt, die aus souverän zu bestimmenden Prioritäten entsteht. Und darum, dass wir – wie die Autorinnen Lippert und Bendiek in ihrem Beitrag schreiben – es schaffen, eine supranationale Chinapolitik zu entwickeln, nicht nur nationale, im Wesentlichen von wirtschaftlichen Interessen getriebene Einzelpolitiken.

Welche Folgen hätte es, wenn Europa dies nicht gelänge?

Ohne eine solche supranationale Politik wird der Druck, sich innerhalb des sino-amerikanischen Rivalitätsrahmens für die eine oder andere Seite zu entscheiden, zunehmen. Wir erleben heute, dass wir mit amerikanischen Sanktionen umgehen müssen, etwa für den Handel mit Iran oder bestimmte Wirtschaftsbeziehungen mit Russland. Wenn Europa nicht selbstbewusst seine eigene Politik gegenüber China entwickelt, könnten wir leicht in eine Situation geraten, in der einzelne Staaten oder auch einzelne Firmen sich unter parallelen Sanktionsdrohungen der USA und Chinas befinden, nur mit der einen oder jedenfalls nicht mit der anderen Seite zu kooperieren. In der Konsequenz würden sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten dabei auseinanderdividieren, würde Europa nicht Stärke entwickeln, sondern verspielen.

Wie kann die EU angesichts der Uneinigkeit ihrer Mitgliedsstaaten über die Ausgestaltung des Verhältnisses zu den USA und zu China auf dem Weg der Selbstbehauptung voranschreiten?

Die Vorstellungen über das Verhältnis zu USA und China sind nicht völlig unterschiedlich. Es gibt ja keinen Staat, der die Westbindung nicht fortsetzen wollte. Aber ja, es gibt Staaten, die bilateral oder subregional eine engere Anbindung an China durchaus ins Auge fassen oder betreiben. Der richtige Weg ist, das gemeinsame europäische Auftreten tatsächlich zu organisieren. Ein großer, wichtiger Schritt dazu ist der geplante EU-China-Gipfel, der unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahres in Leipzig stattfinden soll. Dort treffen sich nicht zwei oder drei großen EU-Staaten, sondern Vertreter aller 27 EU-Staaten mit chinesischen Gesprächspartnern.

Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion.

Brexit und ein EU-Handelsabkommen bis Ende 2020 – Wie das Unmögliche möglich machen?

Mon, 17/02/2020 - 00:30
Grundlagen der zukünftigen Handelsbeziehungen stehen bereits fest

Eine gemeinsame politische Erklärung der EU und Großbritanniens vom Oktober 2019 umreißt die Grundpfeiler der künftigen Zusammenarbeit nach dem Brexit, auch der Handelsbeziehungen: Ein umfassendes Freihandelsabkommen mit weitgehender Zollfreiheit soll entstehen. Damit Regularien und Standards auch künftig wenig auseinanderlaufen, wird eine enge Zusammenarbeit in verschiedenen Sektoren angestrebt.

Zumindest die Grundrichtung ist damit klar. Bestätigt wurde sie sowohl in der Rede von Premierminister Johnson am 3. Februar als auch in dem am gleichen Tag vorlegten Vorschlag der EU-Kommission für ein Verhandlungsmandat zum Freihandelsabkommen EU–Großbritannien. Billigen die Mitgliedstaaten das Mandat am 25. Februar, können die drängenden Gespräche mit London beginnen. Denn die Zeit ist knapp. Das betonen beide Seiten.

Einige offene Fragen aber bergen Konfliktpotential

Die im Austrittsabkommen vereinbarte Übergangsphase läuft Ende Dezember aus. Ab Januar 2021 aber drohen Zölle und damit verbunden Kontrollen. Denn neben dem Konsens über die Grundrichtung gibt es in einigen Punkten offenen Dissens. Großbritannien ist vor allem die Abkehr von der Personenfreizügigkeit wichtig, dem Anlass für das Brexit-Votum. Auch wollen die Briten unabhängig von der EU eigene Regulierungen erlassen und Freihandelsabkommen mit Drittländern schließen. Gleichzeitig will das Land aber auch größtmögliche Zollfreiheit auf dem EU-Markt. Und genau hier liegt aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie eng die Zusammenarbeit sein soll, das Problem.

Die EU will im Sinne eines sogenannten »Level Playing Field«, also fairen und gerechten Wettbewerbs, Unternehmen und Verbraucher vor unfairem Wettbewerb durch künftig eventuell niedrigere britische Standards schützen. Das gilt nicht nur für Produkte, sondern unter anderem auch für Steuern oder Staatsbeihilfen. Neben der konkreten Ausgestaltung dieser Fragen muss geklärt werden, wie umfassend etwa das Abkommen neben dem Güterverkehr auch Dienstleistungen und den Kapitalverkehr erfassen soll. Auch muss Einigung darüber erzielt werden, ob und welche sektorspezifischen Regelungen es geben soll.

Für die EU ist zumindest klar, dass die Verbindung der vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Markts – freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital – beibehalten bleibt. Will Großbritannien dieses für Personen einschränken, muss an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen werden – zum Beispiel durch Zölle auf Waren.

Bestehende EU-Abkommen zeigen Spielraum für Verhandlungen

In welchem Rahmen Einigungen möglich sind, zeigen bestehende EU-Abkommen – bei allen sind Zollkontrollen unerlässlich. Die stärkste Koordinierung nationaler Handelspolitik besteht im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Er bietet den Partnern EU, Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein bis auf wenige ausgenommene Sektoren untereinander Zollfreiheit und Zugang zum EU-Binnenmarkt. Allerdings übernehmen die Partner auch automatisch alle EU-Änderungen an Regulierungen.

Große handelspolitische Souveränität des Partnerlandes bleibt unter dem umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada erhalten. Auch Johnson sagte in seiner Rede Anfang Februar, dass er sich für die künftigen Beziehungen ein Freihandelsabkommen »ähnlich dem Kanadas« vorstellen könne. Die Partner können danach interne Regulierungen und Standards etwa zu Produktionsverfahren oder Kennzeichnungen unter Berücksichtigung des ohnehin vorgegebenen einheitlichen WTO-Rahmens für alle WTO-Mitglieder frei definieren. In diesem und vergleichbaren Drittstaatenabkommen wird jede einzelne Zolllinie getrennt und für jede Regulierung einzeln über eine Angleichung verhandelt. Kommt man zu keiner Einigung,  gelten beim Import weiterhin die Bestimmungen des Einfuhrlandes. An den Grenzen muss dann kontrolliert werden, ob die jeweiligen Importe den Standards entsprechen.

Erfahrungen mit pragmatischen Vereinbarungen nutzen

Um sich bis Ende 2020 auf ein handelspolitisches Rahmenabkommen einigen zu können, empfiehlt es sich, Erkenntnisse aus bereits beschlossenen Abkommen zu nutzen. Denn der Versuch, ein Abkommen bis zum Ende des Jahres zu schließen, ist sehr ambitioniert. Normalerweise liegt die Verhandlungsdauer bei mehreren Jahren, im Fall CETA waren es sieben.

Allerdings besteht im Fall EU–Großbritannien im Vergleich zu anderen Verhandlungen eine günstige Ausgangssituation: Sonst wird darüber verhandelt, wie Zölle gesenkt und produktspezifische Standards harmonisiert oder gegenseitig anerkannt werden können. Beim Brexit ist dieses Ziel aber die Ausgangslage. Nun geht es darum, wie in Zukunft mit eventuell voneinander abweichenden Regulierungen umzugehen ist – und wie eventuell einzelne Zölle zu definieren sind. Kurzum: Die Verhandlungstiefe ist geringer.

Doch wie können Kompromisslinien aussehen? Gegenleistung für freien Zugang zum Markt ist aus Sicht der EU, dass Großbritannien auch in Zukunft veränderte europäische Standards übernimmt – was es aktuell ablehnt.

Alternativ könnte ein Mechanismus der beidseitigen Angleichung verhandelt werden. Beide könnten sich zunächst für eine Übergangsphase auf einen »Alertmechanismus« einigen. Danach würden spezielle Detailverhandlungen für den konkreten Fall eröffnet, dass sich Regelungen voneinander entfernen, entweder durch Änderungen auf Seiten der EU oder Großbritanniens. Um diese Änderungen festzustellen, ist deren verlässliche Bekanntgabe (Notifizierung) nötig. Tritt der Fall ein, könnte man versuchen, die unterschiedlichen Standards entweder zu harmonisieren oder gegenseitig anzuerkennen. Gelingt dies nicht, müssten Grenzkontrollen und Einfuhrregelungen für die entsprechenden Produkte definiert werden. Für entsprechende Monitoring-Mechanismen und Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung gibt es zahlreiche Vorbilder, sowohl in bestehenden EU-Abkommen als auch auf WTO-Ebene.

Um der politischen Sensibilität des Themas Regulierung Rechnung zu tragen, könnten auch Branchen wie etwa Lebensmittel, die als Symbol der eigenen Regelungshoheit besonders wichtig erscheinen, von vorneherein ganz oder zunächst befristet vom Versuch der Harmonisierung oder gegenseitigen Anerkennung ausgeklammert werden.

Mit viel gutem Willen kann ein Rahmenabkommen bis zum Jahresende gelingen – und ein harter Brexit verhindert werden. Dies aber wäre erst der Anfang weiterer, komplexer Verhandlungen.

Ein Jahr Proteste in Algerien: Wer wird sich durchsetzen?

Fri, 14/02/2020 - 00:30

Trotz der seit einem Jahr andauernden Massenproteste ist das algerische Regime weder kollabiert noch hat es zu massiver Gewalt gegriffen. Das Land kommt aber auch nach der höchst umstrittenen Wahl des neuen Präsidenten Abdelmajid Tebboune im Dezember nicht zur Ruhe. Dieser wie auch Teile seines Kabinetts stammen aus dem Umfeld des infolge der Proteste im April 2019 zum Rücktritt gezwungenen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika. Schon deshalb mangelt es ihnen an Akzeptanz. Zudem spricht vieles dafür, dass das Zentrum der Macht nach wie vor eher beim Militär als beim Präsidenten liegt.

Derweil protestieren jede Woche nach wie vor Zehntausende friedlich für einen demokratischen Wandel und Rechtsstaatlichkeit, gegen den als illegitim betrachteten neuen Präsidenten und für den Rücktritt aller Personen, die korrupten Netzwerken der Bouteflika-Ära angehörten. Die konstante Mobilisierung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Denn der Protestbewegung fehlen sowohl Organisations- und Führungsstrukturen als auch handfeste Erfolge hinsichtlich politischer Reformen.

Auch wenn das Regime bislang die Zügel in der Hand hält, stellt sich angesichts der Ausdauer und Entschiedenheit der Protestbewegung, dem sogenannten Hirak, die Frage, wer resilienter sein wird: das Regime oder der Hirak?

Strategien der Regierung: Zuckerbrot und Peitsche

Präsident Tebboune ringt seit seinem Amtsantritt um Legitimität. Die Signale des Regimes oszillieren zwischen demokratischem Reformversprechen und autoritärer Kontinuität, zwischen Kooptation und Repression. So leitet der Präsident Schritte zur Verfassungsreform ein, ließ knapp 10.000 Gefangene frei und kündigte an, den Anti-Korruptionskampf zu intensivieren, die Verwaltung zu straffen und die Start-Up-Kultur zu stärken. Mehrere mit dem Hirak sympathisierende Personen wurden in die Regierung berufen. Im Kontrast zu den positiven Signalen Tebbounes stehen indes weiterhin Verhaftungen von Aktivisten und die Tatsache, dass prominente Regimekritiker nach wie vor im Gefängnis sitzen. Der neue Präsident und Generalstabschef versuchen, genauso wie ihre Vorgänger, den Hirak zu spalten und zu diskreditieren, indem sie nationalistische Gefühle instrumentalisieren, Berbersymbole diskriminieren, mit Sicherheitsängsten spielen und die Protestierenden beschuldigen, von außen gesteuert zu sein. Das Regime setzt ganz offensichtlich auf das Verpuffen der Proteste – ohne sich die Finger durch hartes Eingreifen der Sicherheitskräfte schmutzig zu machen.

Spaltung und Ritualisierung als Gefahren für den Hirak

So einfach dürfte diese Rechnung indes nicht aufgehen. Zu den zentralen Errungenschaften des Hirak gehört die Re-Mobilisierung und Re-Politisierung einer Gesellschaft, die lange Jahre von bürgerlichem Engagement abgehalten worden war: durch Demonstrationsverbote, Sicherheitsorgane, das Trauma des Bürgerkriegs der 1990er Jahre sowie großzügige staatliche Alimentierung. Den Rückzug Bouteflikas sowie die Korruptionsprozesse gegen politische und wirtschaftliche Eliten hat der Hirak als Etappensiege verbucht.  Solange kein glaubwürdiger demokratischer Wandel in Sicht ist, will er weiter mobilisieren.

Ohne klaren Gegenentwurf zu Tebbounes »Reformagenda« und ohne Organisationsstruktur laufen die wöchentlichen Märsche aber das Risiko, zum Selbstzweck zu werden. Sie bieten dem Regime Einfallstore für Kooptation und Manipulation. So herrscht bereits profunde Uneinigkeit darüber, wie mit Dialogangeboten des Regimes umgegangenen werden und wie viel (kulturelle) Diversität das künftige Gesellschaftsmodell beinhalten soll. Nicht zuletzt könnten mit wachsender Wirtschaftskrise sozio-ökonomische Forderungen die politischen überschatten.

Allerdings kann das Regime nicht mehr wie in der Vergangenheit sozialen Frieden kaufen. Algerien hat es bislang verpasst, die Abhängigkeit von Öl- und Gaseinnahmen zu reduzieren, die über 90 Prozent der Exporteinnahmen ausmachen. Diese sinken seit 2014 und lassen die Devisenreserven schwinden. Nun haben die landesweiten Proteste, die Inhaftierung von Konzernchefs im Zuge der Antikorruptionskampagne sowie Importrestriktionen zu massivem Stellenabbau geführt und die Wirtschaftskrise verstärkt. Selbst sofort eingeleitete Reformen könnten eine sozio-ökonomische Krise kaum mehr abwenden.

Perspektiven: Risiko eines dysfunktionalen Staates

Bei allen möglichen Zukunftsszenarien dürfte daher die Wirtschaftslage ausschlaggebend sein. Die aktuellen politischen Reformversprechen von Präsident und Regierung, der so genannte »New deal for a new Algeria«, können vor diesem Hintergrund als Flucht nach vorne gesehen werden. Dabei ist ein Unfall von oben durchaus möglich: Die angekündigten Reformen entgleiten der Kontrolle des Regimes und führen zu einer demokratischen Transition. Paradoxerweise könnte das verbreitete Misstrauen gegen die Regierung eine solche Dynamik verhindern: Selbst wenn das Regime – oder ein Teil davon – es mit politischen Reformen ernst meinen sollte, würden es viele Algerier und Algerierinnen nicht glauben und möglicherweise gar die Umsetzung erschweren.

Umgekehrt ist eine Verstärkung des autoritären und militärischen Charakters des Systems ebenfalls denkbar, etwa wenn Spillover-Effekten aus Libyen, massive sozio-ökonomische Aufstände oder die Radikalisierung eines harten Kerns des Hirak den »Hardlinern« im Regime einen Vorwand für mehr Repression geben.

Wahrscheinlicher aber ist: Das Regime kauft sich durch Reformversprechen Zeit. Stabilisierungsängste und wirtschaftliche Sorgen in der Bevölkerung verstärken die Angst vor politischen Experimenten wieder,  und der Hirak wird schwächer. Politische Blockaden und Legitimitätsdefizite verhindern essentielle Reformen und führen zu einer hohen Dysfunktionalität des Staates und im schlimmsten Fall zu Staatsversagen. In diesem Fall hätten sich weder Regime noch Hirak als resilient erwiesen.

Bei all diesen Entwicklungen sind europäische Staaten aufgrund der verbreiteten algerischen Angst vor externer Einmischung weitgehend zum Beobachterstatus verdammt. Der Drahtseilakt für Deutschland und die EU wird folgender sein: Stabilitätsinteressen in Nordafrika zu verfolgen und Algerien, falls gewünscht, bei Wirtschaftsreformen zu unterstützen – ohne dabei den Kampf der Algerierinnen und Algerier für Teilhabe, Freiheit und Demokratisierung durch eine Stärkung des algerischen Regimes zu unterminieren.

Eine Chronologie der Protestbewegung in Algerien seit Februar 2019 von Luca Miehe finden sie hier.

Dieses »Kurz gesagt« wurde auch auf qantara.de veröffentlicht.

Multilateralismus

Fri, 14/02/2020 - 00:00

Multilateralismus erscheint angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der Weltpolitik und ihrer strukturellen Gegebenheiten (nationalstaatliche Souveränität, Machtdiffusion) als eine geradezu unerlässliche Form der internationalen Diplomatie. Dennoch ist er (scheinbar) umstritten: So steht er gegenwärtig unter Beschuss ins­besondere des Weißen Hauses und des State Departments, während sich andererseits sowohl Chinas Staatspräsident Xi Jinping als auch sein russischer Amtskollege Wla­dimir Putin als Befürworter und Verteidiger des Multilateralismus geben. Bei dem Streit geht es allerdings nicht um Multilateralismus als diplomatische Verfahrens­weise, sondern im Kern um die Frage, welche Prinzipien, Werte und Organisationen die internationale Ordnung bestimmen und damit die internationale Politik prägen sollen. Zugleich werden inhärente Schwierigkeiten und Grenzen des Multilateralismus oft unter-, seine Möglichkeiten überschätzt. Um Multilateralismus möglichst wirksam zu betreiben, bedarf es darum einer realistischen Bewertung seiner Voraus­setzungen und des klugen Umgangs mit den Eigenheiten multilateraler Politik.

Crypto AG: Die Lehre aus der Operation Rubikon

Fri, 14/02/2020 - 00:00

Eine Recherche der Washington Post, des ZDF und des Schweizer Fernsehen förderte zutage, dass die Schweizer Firma Crypto AG, lange Zeit Marktführerin im Bereich von Verschlüsselungsgeräten, die Verschlüsselungsverfahren in einigen ihrer Chiffriermaschinen absichtlich geschwächt hat. Dies geschah wohl im Auftrag der amerikanischen CIA und des deutschen BND und trug den Codenamen Operation Rubikon. Über diese absichtlich platzierte Hintertür konnten CIA und BND die vermeintlich sicher verschlüsselte Kommunikation zahlreicher Regierungen dieser Welt abhören, die die Produkte der Firma einsetzten. Zu den Abnehmern der manipulierten Geräte gehörten Staaten wie Saudi-Arabien, Iran, Argentinien, Panama, aber auch der Vatikan oder verbündete Staaten wie Italien, Österreich und Spanien.

Staaten spionieren

Zunächst einmal ist es keine Überraschung, dass Staaten sich gegenseitig ausspionieren. In Nachrichtendienstkreisen ist dies keine Schande, es sei denn man wird dabei erwischt. Auch das Manipulieren bzw. Knacken von kryptografischen Protokollen gilt als Kerngeschäft von Nachrichtendiensten. Man denke etwa an den britischen Nachrichtendienst GCHQ, der die Enigma-Verschlüsselungs-Maschine der Nazis knackte. Historisch betrachtet konnten so immer wieder wertvolle Informationen gesammelt werden. Durch die platzierte Hintertür in der Crypto-AG-Hardware konnten auch BND und CIA hilfreiche Erkenntnisse über weltpolitische Ereignisse sammeln: etwa über die Geiselnahme in der iranischen US-Botschaft im Jahr 1979 oder über Bewegungen der argentinischen Marine im Falkland-Krieg 1982. Dies half, gezielt zu reagieren und kurzfristige, nationale Sicherheitsinteressen zu befriedigen. Operation Rubikon gilt damit als eine der erfolgreichsten Spionageoperationen des Kalten Krieges.

Veränderte Rahmenbedingungen

Welche Lehren können wir aus der Operation Rubikon, die nach Berichten des SFR noch bis 2018 lief, für heutige Debatten ziehen? Bei der Beurteilung der Legitimität manipulierter Verschlüsselungstechnik ist ausschlaggebend, dass sich die Rahmenbedingungen gegenüber dem analogen Zeitalter des Kalten Krieges mit der Digitalisierung maßgeblich geändert haben. Kryptografie ist keine geheime Militärtechnologie mehr, sondern allgegenwärtig. Unsere Kommunikation über Messenger wie WhatsApp ist verschlüsselt, damit unbeteiligte Dritte sie nicht abschöpfen können. Smarte, digitale Stromnetze kommunizieren verschlüsselt, damit der Stromfluss nicht sabotiert werden kann. Anders als im analogen Zeitalter sind nicht mehr nur Regierungen auf Kryptografie angewiesen, sondern Milliarden von Menschen. Verschlüsselung ist damit ein Grundpfeiler für die erfolgreiche Digitalisierung geworden. Aus diesem Grund sorgen wir uns zu Recht, dass der chinesische Mobilfunkhersteller Huawei absichtlich Spionage- oder Sabotagehintertüren in die softwaregetriebene 5G-Mobilfunkinfrastruktur einbauen könnte. Ein Mobilfunknetz ist kritische Infrastruktur, da darüber immer mehr entscheidende gesellschaftliche Funktionen gesteuert werden, von Autos bis »Milchkannen«. Diese Infrastruktur muss so sicher wie möglich sein, und gute Verschlüsselung spielt dabei eine zentrale Rolle. Wenn 5G-Mobilfunkkommunikation quasi ab Werk gut verschlüsselt wäre, könnten chinesische Nachrichtendienste diese weniger leicht abhören.

Hintertüren bei WhatsApp und 5G

Dagegen wehren sich aber auch westliche Nachrichtendienste und Strafverfolgungsbehörden: Sie wollen, wie im Fall Crypto AG im Kalten Krieg, weiterhin Löcher in an sich sichere Verschlüsselungssysteme schlagen. Aus dem deutschen Innenministerium kommen regelmäßig Forderungen nach platzierten Hintertüren in der Verschlüsselungssoftware von Messengern wie WhatsApp. Kommunikationsunternehmen werden aufgefordert, Sicherheitslücken in ihre Verschlüsselungstechnologie einzubauen oder diese bewusst offenzulassen, damit Sicherheitsbehörden Terroristen überwachen können. Auch mit Blick auf die nächste Mobilfunkgeneration »5G« lobbyieren Nachrichtendienste und Strafverfolger weltweit dafür, dass diese keine zu starke Verschlüsselung enthalten darf. Sie fordern rechtlich abgesicherte Zugangsschnittstellen (»lawful access«) zur 5G-Technik, damit sie weiterhin Kommunikationsdaten bei Service-Providern auslesen können.

Dabei wird ignoriert, dass diese bewusst angelegten Hintertüren bzw. Schnittstellen von jedem ausgenutzt werden können, der die zugrundeliegende Schwachstelle findet. Die amerikanischen Dienste nutzen bereits seit 2004 Cyber-Fähigkeiten, um »lawful access«-Schnittstellen bei Privatunternehmen anzugreifen und so die Kommunikation anderer Länder abzufangen. Da solche digitalen Angriffstools immer mächtiger und billiger werden und über unregulierte schwarze und graue Märkte immer schneller verfügbar sind, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch China, Nordkorea, Iran oder sogar kriminelle Hacker diese Fähigkeiten erlangen werden. Dies belegen zumindest die Erfahrungen mit vergangenen, aber immer noch eingesetzten, Mobilfunkstandards wie GSM (2G). Ein anderes Beispiel ist der Pegasus-Trojaner, der auf einer Schwachstelle in WhatsApp basiert. Dieser Spionagetrojaner wird sowohl von autoritären Regimen, westlichen Polizeibehörden, aber auch von mexikanischen Drogenkartellen genutzt, um verschlüsselte Kommunikation abzuhören. Jüngstes Opfer: der Amazon-CEO Jeff Bezos

Plädoyer für einen Richtungswechsel

Wir können nicht glaubwürdig vor chinesischen Hintertüren in Mobilfunktechnik warnen und im gleichen Atemzug selbst welche einbauen. Damit schlagen wir bewusst Löcher in eine kritische Infrastruktur. Wer heutzutage Hintertüren in Verschlüsselung einbaut, egal ob bei WhatsApp oder 5G, setzt Milliarden von Menschen enormen Risiken aus. Damit werden hohe IT-Sicherheitsstandards, die wir zur Abwehr von Hackern und fremden Nachrichtendiensten brauchen, für kurzfristige, nationale Sicherheitsinteressen geopfert. Insbesondere in den USA zeichnet sich allerdings ein zaghafter Richtungswechsel ab: Dort argumentieren ehemalige Nachrichtendienstchefs, dass Amerika mit guter Verschlüsselung sicherer ist, als mit absichtlich geschwächter. Es wird Zeit, dass dieses neue Denken auch in anderen demokratischen Ländern Einzug erhält. Das sollte die Lehre aus der Operation Rubikon sein.

Dieses »Kurz gesagt« wurde auch unter netzpolitik.org veröffentlicht.

Regionalmacht Vereinigte Arabische Emirate

Thu, 13/02/2020 - 00:00

∎ Seit dem Arabischen Frühling 2011 verfolgen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) eine zunehmend aktive Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sind dadurch eine wichtige Regionalmacht geworden.

∎ Die VAE sehen in der Muslimbruderschaft eine ernsthafte Bedrohung für die Regimestabilität im eigenen Land und bekämpfen die Organisation und ihr nahestehende Gruppierungen in der gesamten arabischen Welt.

∎ Bevorzugte Partner der emiratischen Regionalpolitik sind autoritäre Herr­scher, die den politischen Islam kritisch sehen und die Muslimbruder­schaft bekämpfen.

∎ Die neue emiratische Regionalpolitik richtet sich auch gegen die iranische Expansion im Nahen Osten. Die antiiranische Dimension der emiratischen Außenpolitik ist jedoch schwächer ausgeprägt als die antiislamistische Dimension.

∎ Die VAE wollen die Kontrolle der Seewege vom Golf von Aden in das Rote Meer erlangen und haben im Laufe des Jemen-Konflikts seit 2015 ein kleines Seereich rund um den Golf von Oman aufgebaut.

∎ Der Aufstieg der VAE zur Regionalmacht hat das Land zu einem wich­tigeren und gleichzeitig problematischeren Partner für die deutsche und die europäische Politik gemacht.

Die EU wird das VN-Waffenembargo in Libyen nicht durchsetzen können

Thu, 13/02/2020 - 00:00

Am 19. Januar 2020 fand in Berlin eine hochrangige Konferenz statt, die Lösungen für den Konflikt finden sollte, der in Libyen zwischen der Einheitsregierung unter Fayez al-Sarraj und den von General Khalifa Haftar geführten Truppen ausgetragen wird. Eine zentrale Vereinbarung der Abschlusserklärung zielt darauf, den unbehinderten Zufluss von Waffen zu unterbinden, die externe Akteure den Kriegsparteien zur Verfügung stellen. Die Konferenzteilnehmer haben sich dazu verpflichtet, »das durch Resolution 1970 (2011) sowie die nachfolgenden Resolutionen des UN-Sicher­heitsrats verhängte Waffenembargo unzweideutig und in vollem Umfang einzuhalten und umzusetzen, auch in Bezug auf die von Libyen ausgehende Verbreitung von Waffen. Wir rufen alle internationalen Akteure auf, dasselbe zu tun.« Die Erklärung bekräftigt damit zum wiederholten Male die bestehende Beschlusslage, was deren Grundproblem enthüllt: Bislang sind die Vereinten Nationen (VN) aus vielfältigen Gründen nicht in der Lage gewesen, das geltende Embargo wirksam durchzusetzen.

Rückschläge für Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung in Lateinamerika

Wed, 12/02/2020 - 00:00

Korruption und Straflosigkeit sind zwei zentrale Probleme des Rechtsstaats in Latein­amerika und damit auch von Qualität und Stabilität der Demokratie in dieser Region. Weil ihre eigenen Handlungs­möglichkeiten erschöpft waren, versuchten einige Regie­rungen, gemeinsam mit internationalen Organisationen dagegen vorzugehen. Dafür wurden Sondermechanismen eingerichtet, die außerhalb staatlicher Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, aber zugleich mit ihnen ver­schränkt daran arbeiten, Netz­werke der Korruption aufzudecken. In Guatemala, Honduras, Mexiko und Nicaragua sind solche Bemühungen zur Durchsetzung von Recht und Menschenrechten vor Kurzem abgebrochen worden, in Ecuador und El Salvador stehen vergleich­bare Ver­suche noch am Anfang. Nur wenn sie umfassend lokal eingebettet und (zivil)gesell­schaftlich verankert sind, werden sie erfolgreich sein können.

Short- and Long-Term Impacts of the Escalation in Idlib

Wed, 12/02/2020 - 00:00
Clashing Priorities in Syria

As the civil war in Syria moves towards an end, it becomes ever more difficult to postpone resolution of the toughest issues. Each actor has different priorities, which are not easy to reconcile. The Syrian regime wants to regain full control of its territory, while Russia and Iran are particularly keen on eliminating the jihadi elements. Turkey has been forced to relinquish its aim of regime change, and is now on the defensive: it has limited its priorities to blocking any autonomous Kurdish governance structures and preventing large-scale inward movements of refugee.

While Ankara’s desire to prevent Kurdish political autonomy is plausibly reconcilable with the Syrian/Russian wish to preserve Syria’s territorial integrity, this cannot be said for the refugee issue. The regime’s northward advance inevitably creates a flow of refugees towards Turkey, which is amplified by the brutality and vengefulness of the regime forces against the opposition.

Turkey’s use of jihadi factions as proxies throughout the Syrian conflict has further complicated the picture. As the United States and Pakistan experienced in the past, employing jihadi groups as military proxies is like taking the genie out of the bottle and can have long-term disruptive effects.

In Syria, these jihadi groups have become concentrated in Idlib province as they successively lost control of other parts of the country. Although they have proven unable to topple the regime, Turkey both chooses not to give up its patronage of them, and cannot do so. It chooses not to abandon these groups because they have been useful in other conflicts, specifically against the Kurdish YPG and more recently in Libya. But more significantly, Turkey cannot easily renounce its patronage for fear that they might turn against their former benefactor if they feel betrayed.

Caught between a rock and a hard place, Turkey tries to diffuse and postpone the crisis as much as possible. Idlib has been a ticking time bomb for several months already. Numerous Turkish attempts to solve the mounting crisis – such as the Sochi Agreement signed by Turkey and Russia on 17 September 2018 – only postponed the inevitable. Now that the Syrian regime has retaken control of most of the country, Idlib is the only opposition-held enclave left and it is no longer possible to postpone the conflict.

Deescalation of the conflict

While there is no easy solution to the current escalation, it is still possible to contain the crisis. At this stage both sides appear to be applying increasing military pressure. Regime forces have made advances and encircled Turkish military outposts in and around Idlib. Turkey has responded by deployment of additional forces. These escalations can be understood as each side strengthening its hand to gain a better deal. The regime is on the verge of regaining full control of the strategic M4 and M5 highways.

In one possible compromise Turkey would accept the regime’s advances but try to preserve a diminished buffer zone further to the north, both to contain the flow of refugees and to again postpone its problem with its proxies. This solution would also receive support from European countries which, like Turkey, consider preventing new refugee movements their top priority.

Once again, any solution would be temporary and Turkey will continue to face the consequences of its Syrian policy in the near future. Whatever compromise is reached tensions must be eased quickly, as the current escalation can easily run out of control. This could happen simply through human error among the military forces, or more likely, as a result of the jihadi groups’ desire to drag Turkey further into the conflict.

Limitations of Russian-Turkish Cooperation

In a broader perspective, the recent escalation in Idlib highlights the limitations of Turkish-Russian cooperation. In fact, Ankara’s turn to Moscow was dictated more by domestic considerations than geopolitical realities. Erdogan, seeking to tighten his grip on power, found anti-Westernism to be a useful tool to mobilise support for his ambitious political projects.

Despite being on opposite sides in Syria and later Libya, as well as in other regions such as the Balkans and the Black Sea, the two countries – and more significantly the two leaders – manage to sustain their cooperation. Turkey’s purchase of the Russian S-400 air defence system expanded the cooperation to the military realm. The two countries also deepened their ties in the energy sector: Russia is Turkey’s primary energy supplier while the TurkStream pipeline enables Russia to bypass Ukraine when supplying European markets. However, as has become clear, despite appearances of increased cooperation strategic rivalries continue to run deep.

This does not mean that the relationship is on the brink of collapse. Erdogan and Putin have both committed too much to it, and have already signalised a wish for reconciliation. However, the revelation of deep strategic conflicts will have a long-term impact. Particularly for Western countries, the recent escalation should remind them once again that Turkey has little to benefit from its drift towards Russia. Contrary to the gloomy picture presented in most Western capitals, the possibilities of a long-term Turkish-Russian alliance are still quite limited. So, although under duress, Turkey might be now more open to influence from the West.

Recent statements of support from Washington can be considered a sign that the United States is already aware of this possibility. And German financial support for Turkish housing projects in “safe zones” in northern Syria is another case. However, the expectations need to remain realistic. Turkey’s pro-Russian foreign policy will not be reversed overnight, as the two leaders will find some kind of compromise amidst mounting pressures. But the general realisation that the Turkish-Russian rapprochement will remain limited will increase the room of manoeuvre for Western countries and for pro-Western factions within Turkey.

China’s Guided Memory

Mon, 10/02/2020 - 00:00

In 2019, China commemorated several anniversaries of politically significant events in its recent history: the May Fourth Movement (100 years), the foundation of the People’s Republic of China (70 years), the Tibet Uprising (60 years), the beginning of the reform and opening policy (40 years), and the massacre on Tiananmen Square (30 years). How China officially commemorates these events – or does not – weighs heavily on the country’s domestic and foreign policy. The state-constructed interpretations of his­tory as a claim to power are directed not only at Chinese society, but also at foreign partners interacting with China, especially governments and companies. The conceal­ment of problematic events from the past is alarming, not least because it in­creases the danger that historical mistakes will be repeated.

Der Streit um die Domain .org

Mon, 10/02/2020 - 00:00

Seit 2003 wurde die Web-Domain .org von der Non-Profit-Organisation Public Internet Registry (PIR) verwaltet. Nun soll die PIR an die private Investmentfirma Ethos Capital verkauft werden. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen nutzen .org-Domains. Sie fürchten Preissteigerungen, politische Einschränkungen und Sicherheitsrisiken. Mit seinem diplomatischen Gewicht sollte Deutschland diesen Sorgen bei der Entschei­dung über .org Geltung verschaffen. Der Streit um .org hat aber noch eine zweite Dimension: Ein weiteres Mal zeigt sich, dass die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) nicht über die Legitimität verfügt, strittige politische Fragen zu entscheiden. Dieses strukturelle Problem wird sich so bald nicht lösen las­sen. Deutschland sollte sich daher um diplomatische Schadensbegrenzung bemühen, auch in kritischer Auseinandersetzung mit dem ICANN-Vorstand. Die diesjährige Jah­res­hauptversammlung von ICANN in Hamburg bietet dafür eine gute Gelegenheit.

Beyond hard science?

Mon, 10/02/2020 - 00:00
Algorithmen und die Szenario‐Analyse digitaler geopolitischer Konflikte zwischen der EU und China

Frankreichs nukleare Abschreckung im Dienst Europas – Eine deutsche Antwort

Fri, 07/02/2020 - 00:00

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron irritiert – immer wieder: Er will die Europäische Union neu gründen, erklärt die Nato für »hirntot« und wirbt um Russland. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an seine Rede zur Verteidigungspolitik: Wird Frankreich seine nukleare Abschreckung ausweiten, den Europäern seinen Nuklearschirm garantieren, sie zur nuklearen Teilhabe einladen?

Ein Angebot an die europäischen Partner

Nichts dergleichen. Als Präsident, der Veränderungen zur Norm erhoben hat, bleibt Emmanuel Macron in Fragen der nuklearen Abschreckung in der Tradition seiner Vorgänger. Die französische Abschreckung bleibt bei der Androhung massiver Repressalien gegen die lebens­wichtigen Zentren des Gegners. Es gilt das Prinzip der »Selbst­genügsamkeit«. Die Entscheidung über den Einsatz der französischen Nuklearwaffen verbleibt beim Staatspräsidenten. Eine Beteiligung Verbündeter sei nicht möglich, da sie dem Prinzip der nationalen Unabhängigkeit widerspräche. Die europäische Dimension des französischen Nukleardispositivs besteht nach Macrons Auffassung in ihrem Beitrag zur europäischen Sicherheit. Frankreichs feste Solidarität mit seinen Alliierten verleihe darüber hinaus auch seinen „vitalen Interessen“ eine europäische Dimension.

Ein konkretes Angebot enthält die Rede des französischen Präsidenten gleichwohl. Emmanuel Macron lädt seine europäischen Partner zu einem strategischen Dialog über die Rolle der französischen Nuklearwaffen ein. Ihm scheint hierfür ein Format vorzuschweben, das sich außerhalb der institutionellen Bahnen von Nato und EU bewegt, analog zu seiner 2017 lancierten Europäischen Interventionsinitiative. Damit ist auch Deutschland gefordert, Stellung zu beziehen. Dabei gilt es, zwei Ebenen zu unterscheiden: die der Verteidigung im engeren Sinne und die europapolitische Dimension.

Die verteidigungspolitische Dimension

Verteidigungspolitisch wäre es ratsam, den französischen Präsidenten dazu zu bewegen, eine engere europäische Zusammenarbeit in der Nuklearwaffenpolitik ins Auge zu fassen. Die Analyse Macrons ist richtig: Europa muss sich in einer Welt verteidigen können, in der Atomwaffen in den letzten Jahren wieder massiv an Bedeutung gewonnen haben. Das gilt umso mehr nach dem Ende des INF-Vertrages. Die USA stehen zwar weiterhin zu ihren Bündniszusagen in der Nato, diese Zusagen haben aber an Glaubwürdigkeit verloren. Das hängt nicht nur mit US-Präsident Trump zusammen. Vielmehr ist Amerika selbst verwundbarer geworden. Der „unipolare Moment“ – als man in Washington noch unangefochten die eigene militärische Überlegenheit zelebrieren konnte – ist längst Geschichte.

Europa braucht somit einen Plan B für die nukleare Abschreckung – nicht, um den nuklearen Schutzschirm der USA zu ersetzen, sondern als zusätzliche Sicherung. Das steht im Übrigen keineswegs im Widerspruch zur Nato. Denn bei jedem ihrer Gipfeltreffen bekräftigt die Allianz, dass das Vereinigte Königreich und Frankreich über eine unabhängige Abschreckung verfügen, die zur Sicherheit der Allianz beiträgt. Nach Russland und den USA ist Frankreich die drittgrößte Atommacht der Welt. Der französische Präsident hat die Hoheit über etwa 300 Nuklearwaffen. Das nukleare Arsenal Frankreichs reicht aus einer verteidigungspolitischen Perspektive somit längst dazu aus, einen Angriff mit Nuklearwaffen auf einen EU-Staat abzuschrecken. Hierzu bedarf es keiner größeren Arsenale wie dem amerikanischen.

Die europapolitische Dimension

Die Antworten auf den strategischen Dialog des französischen Präsidenten müssen aber auch die europapolitischen Konsequenzen seines Vorstoßes im Blick behalten. Die nukleare Frage birgt erhebliches Spaltpotenzial für die Europäische Union und für den europäischen Teil der Nato. Jene Staaten, die sich besonders von Russland bedroht sehen – zuvorderst Polen, Rumänien und die baltischen Staaten – blicken weiterhin für ihren Schutz in erster Linie über den Atlantik. Dabei spielt auch ihr erhebliches Misstrauen gegenüber Deutschland und Frankreich eine wichtige Rolle. Leider haben die jüngsten Äußerungen und Entscheidungen des französischen Präsidenten – wie beispielsweise die Blockade der Erweiterungspolitik – dieses Misstrauen nicht reduziert.

Eine Vergemeinschaftung der französischen Bombe oder Versuche, neue Institutionen der nuklearen Teilhabe oder für nukleare Planungen und Kommandostrukturen in das Gefüge der Europäischen Union zu pflanzen, wären utopisch – und auch Macron hat solchen Überlegungen in seiner Rede erneut eine klare Absage erteilt. Aber auch der Aufbau paralleler ad hoc-Strukturen außerhalb der Nato wäre mehr als problematisch. Solche Strukturen wären eine offene Abkehr von den USA und würden das Bündnis – und damit Europa – tief spalten. Zudem haben die nuklearen Planungsstrukturen der Allianz seit ihrer Schaffung in den 1960er Jahren gut funktioniert. Trotz der Aversionen von US-Präsident Trump gegenüber multilateralen Institutionen haben die USA auch unter seiner Präsidentschaft die gemeinsamen nuklearen Planungsstrukturen im Bündnis nicht in Frage gestellt.

Die deutsche Antwort auf die Einladung des französischen Präsidenten, einen strategischen Dialog über die Rolle der französischen Nuklearwaffen zu führen, sollte somit lauten: Der Dialog über eine europäische nukleare Abschreckung ist richtig und wichtig, er kann jedoch am besten in den seit Jahrzehnten gut etablierten Institutionen der Nato – zuvorderst der der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) – stattfinden. Eine Beteiligung Frankreichs an der NPG, die gleichzusetzen ist mit der Bereitschaft des Landes, der Nato seine Nuklearwaffen zur Verfügung zu stellen, würde dem Anliegen, den europäischen Pfeiler in der Nato zu stärken, echte Konturen verleihen. Sie wäre auch für alle europäischen Mitglieder des Militärbündnisses tragfähig. Mag sein, dass eine Beteiligung Frankreichs an den gemeinsamen Nuklearstrukturen der Allianz in Paris weiterhin ein Tabu bleibt. Der von Macron angedachte Dialog sollte jedoch vor Tabus nicht zurückschrecken.

Strategische Rivalität zwischen USA und China

Wed, 05/02/2020 - 00:00

∎ Die Rivalität zwischen den USA und China ist in den letzten zwei Jahren zu einem Leitparadigma der internationalen Beziehungen geworden. Es prägt strategische Debatten ebenso wie reale politische, militärische und wirtschaftliche Dynamiken.

∎ Die sino-amerikanische Konkurrenz um Macht und Status hat verschiedene Dimensionen. Dazu gehören auch wachsende Bedrohungswahrneh­mungen und eine sich verstärkende politisch-ideologische Komponente.

∎ Der amerikanisch-chinesische Handelskonflikt wird politisch instrumen­talisiert und ist eng mit weltordnungspolitischen Fragen verbunden.

∎ Bei der technologischen Dimension geht es nicht nur darum, wer tech­nische Standards setzt, sondern auch um geopolitische Machtprojektion durch »technopolitische Einflusssphären«. Dabei werden Fragen der Technologieentwicklung und -nutzung Teil eines Systemgegensatzes oder systemischen Wettbewerbs.

∎ Die Präsidenten Trump und Xi schüren durch ihre unterschiedlichen Führungsstile bilaterale Konflikte und beschädigen, jeder auf seine Art, internationale Regeln und Institutionen.

∎ Zu den internationalen Auswirkungen der sino-amerikanischen Rivalität gehört, dass sie multilaterale Institutionen untergräbt, etwa die Welt­handelsorganisation. Während sich die USA aus einigen multilateralen Institutionen zurückziehen, baut China seinen Einfluss aus, wie bei den Vereinten Nationen.

∎ Europa muss sich der bipolaren Logik entziehen, nach der es sich zwischen einer amerikanischen und einer chinesischen Wirtschafts- und Technologiesphäre zu entscheiden habe. Es muss eine Chinapolitik ent­wickeln, die als Teil des Strebens nach europäischer Souveränität oder strategischer Autonomie konzipiert wird; dazu bedarf es einer »supra­nationalen Geopolitik«.

Reviewing the HLPF's "format and organizational aspects" - what's being discussed?

Wed, 05/02/2020 - 00:00
Assessing current proposals under debate

The Sino-American World Conflict

Tue, 04/02/2020 - 00:00

∎ The Sino-American conflict syndrome contains several elements. It is based on a regional status competition, which is increasingly becoming global.

∎ This competition for influence has become combined with an ideological antagonism that has recently become more focused on the US side.

∎ Since the United States and China perceive each other as potential mili­tary adversaries and plan their operations accordingly, the security dilemma also shapes their relationship.

∎ The strategic rivalry is particularly pronounced on China’s maritime pe­riphery, dominated by military threat perceptions and the US expectation that China intends to establish an exclusive sphere of influence in East Asia.

∎ Global competition for influence is closely interwoven with the techno­logical dimension of American-Chinese rivalry. It is about dominance in the digital age.

∎ The risk for international politics is that the intensifying strategic rivalry between the two states condenses into a structural world conflict. This could trigger de-globalization and the emergence of two orders, one under the predominant influence of the United States and the other under China’s influence.

Neue Initiativen für eine gelähmte Union

Tue, 04/02/2020 - 00:00

Die Europäische Union ist gezeichnet von einem Jahrzehnt der Krisen. Diskussionen über Reformen in zentralen Politikfeldern sind blockiert. Die neue Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen hat nun für 2020 ambitionierte Vorhaben versprochen, die Klima und Digitalisierung ebenso betreffen wie die globale Positionierung der EU. Zugleich soll eine Konferenz zur Zukunft der EU ins Leben gerufen werden. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die fortschreitende Fragmentierung im Europäischen Parlament sowie verhärtete Fronten zwischen Mitgliedstaaten und instabile Machtverhältnisse in mehreren dieser Staaten nur wenige konkrete Fortschritte erlauben. Statt eines neuen (geopolitischen) Auftretens der Union ist eine zusehends stärkere Ausdifferenzierung ihrer Handlungsfähigkeit nach Politikfeldern zu beobachten. Die deutsche Ratspräsidentschaft könnte dem entgegenwirken, indem sie die Suche nach »Paketlösungen« über einen ressortgetriebenen Ansatz in der EU-Politik priorisiert.

Die Türkei verlagert den Schwerpunkt ihrer Außenpolitik

Tue, 04/02/2020 - 00:00

Am 27. November 2019 erklärte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei habe einen Vertrag über militärischen Beistand und Zusammenarbeit mit der Regierung von Fayez al-Sarraj in Libyen geschlossen, der die Entsendung türkischer Truppen in das Bürgerkriegsland ermögliche. Diese Mitteilung stieß in West­europa auf nahezu einhellige Kritik. Die Entrüstung wuchs noch, als bekannt wurde, dass die Türkei von ihr kontrollierte und finanzierte islamistische syrische Kämpfer nach Libyen schleust. Meldungen über einen dominanten Einfluss der Muslimbruderschaft auf die libysche Regierung schienen das Bild einer stark islamistisch motivierten türkischen Politik zu vervollständigen.

Doch das Engagement der Türkei in Libyen ist nicht von Ideologie, sondern von strategischen Überlegungen und von ökonomischen Interessen getrieben. Ankara reagiert damit auf seine Isolation im östlichen Mittelmeer, wo sich der Streit um die Aufteilung der Gasressourcen zuspitzt. Gleichzeitig zieht die Türkei Lehren aus dem Krieg in Syrien, der für sie verloren ist, ihr jedoch eine zwar konflikthafte, aber trag­fähige Arbeitsbeziehung mit Russland eingebracht hat. Unter dem Strich manifestiert sich im Libyen-Engagement eine Verlagerung des Schwerpunkts türkischer Außen­politik vom Nahen Osten in das Mittelmeer, ein Schwenk, der Europa und die Nato vor ganz neue Herausforderungen stellen wird.

»Alle zwei Minuten emigriert ein Mensch aus dem Westbalkan in die EU«

Tue, 04/02/2020 - 00:00

Anfang Februar wird die EU-Kommission eine neue »Methodik« für den EU-Erweiterungsprozess mit den Westbalkan-Staaten veröffentlichen. Wieso braucht es nach der Verkündung einer neuen Erweiterungsstrategie 2018 schon wieder ein Update?

Dušan Reljić: Weil es der französische Präsident Emmanuel Macron so will. Mitte November veröffentlichte Frankreich ein Arbeitsdokument mit einem Rundumschlag gegen die bestehende Methode der EU-Erweiterung und eigenen Gegenvorschlägen. Zugleich verhinderte Paris mit Unterstützung aus Dänemark und den Niederlanden, dass die Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien beginnen. Macron verlangt die Vertiefung der Integration innerhalb der EU, bevor sie erweitert wird. Die meisten EU-Staaten wollen jedoch zumindest einen Beginn der Beitrittsgespräche mit den Regierungen in Skopje und Tirana. Die Europäische Kommission bemüht sich nun um einem Kompromissvorschlag.

Was möchte die EU-Kommission mit der neuen Methodik konkret verändern?
Die Kommission möchte keine »Revolution«, sondern eine »Evolution« des bestehenden Rahmens der Erweiterungspolitik, wie ihre Strategen angekündigt haben. Es ist insofern mit behutsamen, wenig effektiven Änderungen der Verfahren zu rechnen. Die eigentlichen Ursachen der schlechten sozio-ökonomischen und politischen Entwicklung im Westbalkan werden wohl auch diesmal nicht wirksam angegangen. Dafür bedürfte es einer fundamentalen – revolutionären – Veränderung der Erweiterungspolitik. Im Mittelpunkt müssten Bereiche wie Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und Einkommen stehen.

Wie sieht die Situation im Westbalkan aus?
Die Region kann trotz oder sogar wegen ihrer starken Anbindung an Deutschland, Italien und andere EU-Kernstaaten nicht genug erwirtschaften, um sich schneller zu entwickeln und gute Lebensbedingungen für die Bevölkerung herzustellen. Dies hat Folgen für die politische Entwicklung: Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 400 € können Rechtsstaat und liberale Demokratie nicht gedeihen. Armut und Hoffnungslosigkeit sind ein guter Nährboden für Populisten und autoritäre Herrscher, die jetzt fast überall im Westbalkan das Sagen haben.

Woher rührt diese ökonomische Schwäche der Region?
Zum einen hatte es diese Region wegen der Folgen des Krieges um das Erbe Jugoslawiens viel schwerer, wirtschaftlich und politisch Anschluss an die europäischen Vereinigungsprozesse zu gewinnen. Zum anderen hat das von der EU und den internationalen Finanzinstituten wie der Weltbank propagierte »Transitionsmodell« mit wenigen Ausnahmen in Mittelost-und Südosteuropa nicht die gewünschte schnelle Angleichung an Westeuropa gebracht. Im Gegenteil: Der Westbalkan hat mit enormen Handels- und Zahlungsbilanzdefiziten zu kämpfen.

Was heißt das in Zahlen?

Zwischen 2008 und 2018 haben die sechs Volkswirtschaften im Westbalkan, die noch nicht zur EU gehören, ein Minus von 100 Milliarden Euro im Handel mit der EU verzeichnet, an erster Stelle mit Deutschland und Italien. Angesichts der bestehenden Struktur der Wirtschaftsbeziehungen mit der EU wird die Region ein Jahreswachstum von sechs bis acht Prozent nicht erreichen können. Das bräuchte sie aber, um in etwa 30 Jahren mit dem EU-Durchschnitt gleichzuziehen.

Was müsste die EU aus Ihrer Sicht heute tun, um für Besserung zu sorgen?
Der Westbalkan wickelt fast 75 Prozent seines Außenhandels mit der EU ab, mehr als etliche EU-Mitglieder selbst. Auslandinvestitionen, Bankenkapital, Überweisungen der Arbeitsmigranten – alles kommt aus der EU. Nur keine substantielle unentgeltliche Finanzhilfe, um wirtschaftlich aufzuholen und die strukturellen Defizite mit der EU zu beheben. Für »neue« EU-Mitglieder wie Polen oder Tschechien ist Geld aus den Struktur-und Kohäsionsfonds der EU auschlaggebend, um ihre schwächere Position im wirtschaftlichen Austausch mit West-und Nordeuropa zumindest zum Teil auszugleichen. Diese Solidarität muss auch für den Westbalkan gelten.

Mit welcher Begründung?

Die EU hat zum Ziel, für Frieden und Wohlstand auf dem ganzen Kontinent zu sorgen, um die eigene Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung dauerhaft zu festigen. Dabei geht es um die geopolitische und geoökonomische Formung dieses Raumes, eigentlich um die Angleichung der Verhältnisse. Der Westbalkan ist von EU-Staaten umgeben. Er ist der Innenhof der EU, nicht die Nachbarschaft. Und seine politische Entwicklung wurde nach den Kriegen in den neunziger Jahren von der EU und ihren führenden Staaten, vor allem Deutschland, maßgeblich mitbestimmt. Es ist im ureigenen Interesse der EU, in einer Region, mit der sie maßgeblich vernetzt ist, für eine Angleichung der Verhältnisse zu sorgen.

In der EU ist es hoch umstritten, ob die Union weitere Staaten aufnehmen sollte. Was sagen Sie den Skeptikern: Welche Vorteile hätte die EU von einer weiteren Integration der Westbalkanstaaten?

Da der Wohlstand nicht zu ihnen kommt, gehen die Menschen dorthin, wo der Wohlstand ist. Im Jahr 2018 haben etwa 230 000 Bürger der Westbalkanstaaten zum ersten Mal eine Aufenthaltserlaubnis in einem EU-Staat erhalten: alle zwei Minuten einer. Davon profitiert die EU; Südosteuropa leert sich jedoch. Die Menschen dort werden im Durchschnitt immer älter, auch sind sie von den Folgen des Klimawandels und der Umweltzerstörung stärker betroffen als der Norden Europas. Sie werden zusehends in prekären Verhältnissen versinken.

Welchen Ausweg sieht die Bevölkerung des Westbalkans?

Untergehende greifen bekanntlich nach jeder ausgestreckten Hand: Derzeit sehen viele Menschen in der chinesischen 17+1 Initiative – der Teil der Seidenstraßeninitiative, der sich auf Mittel- und Südosteuropa konzentriert – für die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Mittel-und Südosteuropas die Chance, doch voranzukommen. Sie hoffen auf anständig bezahlte Jobs, bessere Straßen, schnellere Eisenbahnen, effizientere Energieanlagen und mehr. Dies sollte ein Signal für die EU sein, dass sie ihrem Anspruch, die Verhältnisse und die Zukunft auf dem europäischen Kontinent umfassend zu gestalten, mit den jetzigen Instrumenten immer weniger gerecht wird. Diesen Trend sollte sie durch eine beherzte Neuorientierung ihrer Erweiterungspolitik umkehren.

Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion der SWP.

Dieses »Kurz gesagt« wurde auch unter euractiv.de veröffentlicht.

India’s Citizenship Struggle

Mon, 03/02/2020 - 00:00

With the recent reform of India’s citizenship law, the ruling Bharatiya Janata Party (BJP) of Prime Minister Narendra Modi is pushing its Hindu-nationalist agenda. The reform became necessary to fix the shortcomings of the National Register of Citizens (NRC) in the state of Assam and to pave the way for a national citizens’ register. Crit­ics are accusing the government of outright discrimination, against Muslims in par­ticular, because the plan could deprive a large number of people of their right to citizenship and undermine fundamental values of the constitution. The measures have also met with much criticism internationally, including from the United States and the United Nations. India’s foreign minister, Subrahmanyam Jaishankar, has defended the reform plans and referred to China’s handling of domestic political problems. If India were to embark on such a path in the long term, this could pos­sibly spark a discussion on whether, and to what extent, an increasingly Hindu-nationalistic India can still be considered a partner that shares values with the West.

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